Vor über 500 Millionen Jahren entwickelte sich ein hochkomplexes Transmittersystem in allen Wirbeltieren, das seither dafür zuständig zu sein scheint, die Wahrnehmung von internen und externen Reizen auf neurophysiologischer Ebene zu verarbeiten und in Verhaltensmuster zu übersetzen. Überlebenswichtige Reaktionen wie Angst oder Stress werden über ein Zusammenspiel verschiedenster Rezeptoren und deren Liganden, hier seien vor allem die CB1- und CB2-Rezeptoren erwähnt, reguliert um eine Anpassung auf Veränderungen in und außerhalb des Körpers zu ermöglichen. Es scheint daher offensichtlich, dass die Dysregulation eines so vielseitig arbeitenden Systems sich unterschiedlich offenbaren kann und einer differenzierten Betreuung bedarf. Im klinischen Alltag kann es daher hilfreich sein, über physiologische und pharmakologische Grundlagen Bescheid zu wissen und sich wie das Endocannabinoid-System selbst: zu vernetzen.

 

Cannabinoide in der Schmerztherapie

Was man sich vor vielen tausenden von Jahren bereits zu Nutzen gemacht hatte, geriet in den vergangenen zwei Jahrhunderten zusehends in Vergessenheit: der Einsatz von Cannabis und Cannabinoiden zu medizinischen Zwecken. In den letzten Jahren erleben diese Substanzen jedoch eine Renaissance betreffend ihren therapeutischen Nutzen bei diversen Krankheitsbildern und das nicht zu unrecht. Aber was sind „Cannabinoide“ genau und wie können sie helfen? Sind sie wahre Wundermittel oder haben wir es mit einem Modetrend zu tun? Welche Substanzen gibt es und was sind ihre positiven und möglichen unerwünschten Wirkungen?

Cannabis ≠ Cannabinoide

Cannabinoide stellen eine bunt gemischte Gruppe diverser chemischer Stoffe dar, die allesamt auf so genannte Cannabinoiderezeptoren, das sind Andockstellen an den Zellen, im Körper wirken. Nicht alle dieser Substanzen sind in der Hanfpflanze Cannabis sativa enthalten, manche werden ausschließlich synthetisch hergestellt. Man unterscheidet in der Gruppe der  Phytocannabinoide mit rein pflanzlichem Ursprung jene etwa 113 aus Cannabis sativa und solche aus anderen Gewürz- und Teepflanzen wie etwa Basilikum, Lavendel, Zimt oder Kümmel. Medizinisch zur Anwendung kommen in Österreich vor allem 9-Tetrahydrocannabinol (THC, Präparatname: Dronabinol), Cannabidiol (CBD), Nabiximols (Pflanzenextraktgemisch aus THC und CBD, Präparatname: Sativex) und Nabilon (THC-Derivat, Präparatname: Canemes). Die erwähnten Substanzen sind in öliger Lösung als Tropfen, Sprays oder in Kapselform erhältlich und in Österreich erlaubt, jedoch nicht allgemein zugelassen. Eine Kostenübernahme ist streng reglementiert und oftmals nicht möglich. „Hanfzigaretten“ oder E-Zigaretten mit CBD-Liquids u.ä. sind hierzulande verboten. In Österreich sind cannabishaltige Präparate in der Medizin aufgrund der Rechtslage und den hohen Kosten für viele Betroffene und Behandelnde leider immer noch keine Option. Als Argument wird oftmals die magere Studienlage genannt, wobei es eine Vielzahl an Untersuchungen gibt, diese jedoch häufig nur mit geringen Patientenzahlen. Unterschiedliche Anpassungen in der Rechtslage einiger anderer Staaten wie beispielsweise in den USA oder jüngst in Deutschland haben dazu geführt, dass die in ihren Wirkungen sehr vielseitigen Cannabinoide einer breiteren Masse der Bevölkerung in Form von Hanfblüten und cannabishaltigen Zubereitungen oder Arzneimitteln legal zugänglich gemacht werden konnten. In Deutschland wurden im ersten Halbjahr 2018 nach einjähriger Zulassung von Hanf zu medizinischen Zwecken laut eines Berichtes der GKV bereits etwa 80 000 Verordnungen ausgestellt: Tendenz steigend. In der täglichen Praxis zeigen Cannabinoide ein großes Potential vor allem als Ergänzung zu einer bestehenden Schmerztherapie bei chronischen Schmerzen, in der Palliativmedizin und Geriatrie, aber auch bei rheumatischen Erkrankungen. Es gibt jedoch noch viele Fragen zu klären.

Cannabinoide in jedem von uns

Als wichtiges Netzwerk zur Erhaltung des Gleichgewichts und der Kommunikation zwischen den Körperzellen bietet das Endocannabinoid-System mit seinen im gesamten menschlichen Organismus vorhandenen Bindungsstellen, ein breites Spektrum an möglichen therapeutischen Angriffspunkten. Unser Körper produziert Botenstoffe – Endocannabinoide – die ähnlich den Substanzen der Hanfpflanze an die Cannabinoidrezeptoren andocken um dann diverse Wirkungen in den verschiedenen Zellen hervorzurufen. Jedes (Endo-)Cannabinoid bindet mehr oder weniger stark an die vorgesehnen Andockstellen: THC bevorzugt den CB1-Rezeptor, der vor allem im zentralen Nervensystem zu finden ist. CBD hingegen bindet vor allem an den CB2-Rezeptor, der im Immunsystem, in der Haut, im Knochen und in vielen anderen Regionen außerhalb des Nervensystems liegt. Somit erklärt sich auch, warum die unterschiedlichen Präparate auch verschiedene Wirkungen hervorrufen können. Im Allgemeinen spielen Cannabinoide eine wichtige Rolle in der Schmerzverarbeitung, unter anderem auch über ein Zusammenspiel mit anderen Botenstoffsystemen und sind an der Entstehung oder Vermeidung von Entzündungsprozessen und anderen Vorgängen des Immunsystems beteiligt. Nicht nur eine direkte schmerzlindernde Wirkung, die in Studien oftmals geringer als erwartet ausfiel, sondern auch die Beeinflussung von Schlaf, Muskelentspannung sowie psychische Wirkungen wie die Distanzierung vom Schmerz- beziehungsweise Leidensgeschehen, Angstlösung und Stimmungsaufhellung scheinen für die positiven Entwicklungen unter einer Cannabinoid-Therapie mitverantwortlich zu sein. Man hat daher als Behandelnde/r eine breite Palette an möglichen Therapieoptionen zur Verfügung: die Herausforderung besteht oftmals darin, die richtige Substanz für das jeweilige Problem/den jeweiligen Symptomkomplex herauszufiltern und diese individuell zu dosieren. Ein vertrauensvolles Therapieverhältnis zwischen Betroffenen und Behandelnden ist nicht nur in der Cannabismedizin, sondern in der Schmerztherapie im Allgemeinen von großer Bedeutung.

High?

Viele Ärztinnen und Ärzte schrecken vor einem Einsatz von Cannabinoiden aus diversen Gründen zurück. Zum einen sind die Substanzen teilweise als Suchtgifte zu verschreiben, wiederum andere sind als Nahrungsergänzungsmittel eingestuft. Es herrscht Verunsicherung bei Verordnung, Dosierung, zu erwartenden Wirkungen und möglichen Nebenerscheinungen. Die Angst eine Psychose auszulösen ist oftmals sehr präsent. Parallel dazu gibt es eine Vielzahl an Anbietern wie „Hanfshops“ oder Onlinestores, die mit cannabishaltigen Produkten werben. Viele Betroffene greifen auf diese Angebote zurück und laufen Gefahr, niedrigqualitative, schadstoffbelastete oder nicht ausreichend hoch dosierte Präparate zu erstehen. Die in Österreich verfügbaren, medizinisch verwendeten Substanzen weisen ein gutes Nebenwirkungsprofil auf, sofern ein bewusster und gezielter Einsatz erfolgt. Eine engmaschige Betreuung durch geschultes Fachpersonal ist Voraussetzung für einen Therapieerfolg, eine eigenmächtige Dosiseinstellung sollte vermieden werden um auch unerwünschte Nebenwirkungen hintan zu halten. Als Gegenanzeigen für den Einsatz von Cannabinoiden gelten unter anderem eine anamnestisch bekannte Psychose, Herzmuskelschäden (Ischämie), schwere Leber- und Nierenschäden, Unverträglichkeiten gegen Inhaltsstoffe sowie Schwangerschaft und Stillzeit. Die Gabe der potentiell Psychosen auslösenden Substanz THC und seinen Analoga ist erst im Erwachsenenalter erlaubt. CBD, das auf andere Rezeptoren als THC wirkt und dadurch weniger psychoaktiv ist, wurde in Studien bei gewissen Formen kindlicher Epilepsie untersucht und in den USA dafür zugelassen. Ein breiterer Einsatz bei Kindern und Jugendlichen sollte nicht erfolgen. Rauschzustände wie sie bei Konsum von Cannabis zum Beispiel als „Joint“ auftreten, sind bei korrekter Einnahme der Präparate nicht zu erwarten, die Fahrtüchtigkeit kann jedoch beeinträchtigt sein. Als weitere Nebenwirkungen können Müdigkeit, Benommenheit und Schwindel vor allem in der Phase zu Beginn einer Therapie bestehen. Der verbesserte Schlaf ist häufig das erste Anzeichen eines Therapieansprechens und nicht selten eine sehr willkommene Wirkung. Gerade für chronische Schmerzpatientinnen und –patienten ist die Fähigkeit, sich entspannen und an vielen Bereichen des Lebens wieder teilhaben zu können die zentrale Aufgabe einer Cannabinoidgabe. Der Schmerz ist zwar da, aber er ist nicht mehr so präsent, er tritt in den Hintergrund und macht Platz für wichtigere Dinge: Beziehungen, Erholung, Genuss.

Spannungsfeld Cannabinoidmedizin

Um einen breiteren, gezielten Einsatz von Cannabinoiden zu ermöglichen, muss sich in Österreich noch viel tun. Hier besteht vor allem gesundheitspolitisch großer Nachholbedarf: es braucht große Studien, vermehrt Ausbildungsmöglichkeiten für Behandelnde und gesetzliche Regelungen, die auch eine Erstattung der verschiedenen Substanzen für jede/n Betroffene/n erlauben. Bis dahin gilt es Aufklärungsarbeit zu leisten, Vorurteile und Mythen abzubauen und Netzwerke zu bilden, die wissenschaftlich fundierte Arbeit gemeinsam mit Betroffenen leisten.

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